Dienstag, 21. Dezember 2010

von Nanok @ 2008-02-13 – 11:48:12
Sekunden bevor der Wecker anspringt, spürt sie eine kalte Hundeschnauze am Arm. Die Augen geschlossen, lächelt sie. Krault dem der Nase zugehörigen Kopf sanft das Fell.
Gerade als sie die Augen öffnet, in zwei wunderschöne, treue Augen blickt, schrillt der Wecker in unangemessener Aufdringlichkeit. Beenden Momente des Friedens, holen sie dahin zurück, wo man sie vermutet.
Sie schlägt die Bettdecke zurück, T-Shirt, Unterhose, Kniestrümpfe. Sie greift als erstes ein Gummiband vom Nachttisch, bindet sich die langen Haare zusammen. Steigt verschlafen 16 Treppenstufen herunter. 16 – genau so viele, wie in ihrem Elternhaus. 16 Stufen. Kocht Kaffee, zieht wahllos Kleidung aus dem Schrank – weil es egal ist. Alles sieht gleich aus. Dunkle Farben, gleiche Schnitte. Sie mag keine Trends. Keine Experimente.
Im Bad steigt sie unter die Dusche. Sie lässt das Wasser auf ihren Hinterkopf prasseln, lehnt ihn dabei zurück und stützt sich mit den Händen an den kalten Fliesen vor ihr ab. Sie denkt kurz nach. Erschrickt dann, weil sie das doch nicht mehr wollte – nicht in dieser Form – und dreht das Wasser von einem Moment auf den anderen auf eiskalt, sodass ihr für Sekunden die Luft wegbleibt.
Dann alles wie gewohnt schnell: anziehen, bürsten, die nassen Haare zusammenbinden, runter. 16 Stufen. Kaffee. Zigarette. Immer gerade nur so lang, dass ihr keine Zeit bleibt, zwischen alltäglich Routiniertem nachdenken zu müssen. Die Zigarette im Mundwinkel beugt sie sich nach vorn, den Haarzopf lösend, um ihn an gleicher Stelle wieder etwas fester zusammen zu binden. Stechende Schmerzen in der linken Schläfe und Schwindelgefühl. Ein kurzer Blick nach draußen und sie wählt aus ihren Schuhen die aus, die am robustesten erscheinen.
Schal, Mütze, Handschuhe. Langsam zieht sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Ein verstohlener Blick in den Spiegel. Wieder ein Straucheln – ein Wanken. Sie wendet den Blick von sich ab. Ihrem Hund zu. Sie kann ihre Gedanken lenken, während sie ihre Füße über die Treppenstufen und das Stück Asphalt zur Hundewiese tragen. Ein Klopfen mit der Hand auf den Oberschenkel Minuten später, ein leiser Pfiff, wieder glänzende Hundeaugen.
„Ich muss los, Süße.“ Die Stimme klar, leise. Das Schloss der Haustür rastet merklich ein, als sie den Schlüssen von außen umdreht. Sie ist spät dran, wirft einen Blick zum Wagen, dann zum Fahrrad, dann in den Himmel. Als der Wagen schnurrend anspringt, dröhnt ihr laute Musik entgegen.

Sie lächelt, lässt die ihr vertraute Musik in unverringerter Lautstärke weiterlaufen. Erst als sie die Wagentür öffnet und sie den Schlüssel aus dem Zündschloss zieht, verstummt das Dröhnen. Sie summt noch leise ein wenig Musik, als sie von einem Bein auf das andere tritt.
Warten. Die Bahn hat Verspätung, die aber so regelmäßig eintritt, dass sie diese Minuten morgens schon fest einplant. Zeit für noch eine Zigarette. Den weißen Dunst einsaugend, schaut sie auf den gegenüberliegenden Bahnsteig.
Drüben steht wieder dieser Typ, der sie seit Wochen nervös macht, weil er sie erinnert. Erinnert an Dinge, die sie sich selbst verboten hat. Sein zögerliches Winken mit dem Zeige- und Mittelfinger, die trotz Kälte nicht in der Hosentasche vergraben sind, erwidert sie mit einem kaum erkennbaren Nicken, dreht sich dann weg, geht ein paar Schritte, die Dunstwolke hinter sich her- und den Kragen der Jacke hochziehend.
In der Bahn: Gestank von Schweiß, billigem Parfum und Undefinierbarem lässt ihr kaum Atem. Endlose 20 Minuten später tritt sie auf den dreckigen Boden der U-Bahn-Station. Nimmt wie immer die Stufen statt der Rolltreppe. 32 Stufen. Dann dunkelblau gefliester Boden. Dann wieder Stufen. 24 dreckige Stufen und wieder Schwäche.
Sie beißt die Zähne zusammen – angekommen in der Bahnhofshalle. Groß. Laut. Zu viele Menschen. Bedrückend. Irgendwas zieht sich in ihrer Brust zusammen, als sie ins Freie tritt. Zwei Zigaretten in der Hand. Eine für ihn, ihn der immer hier sitzt. Jeden Morgen, seit über einem Jahr.
Nervös steckt sie sich ihre an. Schaut sich suchend um. Seine Decke liegt wie immer da. Eine gelbe Tüte mit roter Schrift weht über seinen Platz. Seinen Platz – er, mit dem sie sich seit Monaten diese kurzen Momente gönnt. Drei Minuten. Eine Zigarettenlänge. Mit leeren Augen sieht sie durch die Menschenmenge, die Unbenutzte zwischen den Fingern drehend, die halb Verglühte im Mundwinkel.
Ihre Augen zucken, als sie so viele Leute vorbeigehen sieht. Sie fühlt sich, als müsse sie schreien. Schreien, so laut und kräftig als wolle sie sich von allen Ketten befreien. Als würde ihr bewusst, dass sie die einzige Beständigkeit in ihrem Leben just in diesem Augenblick verloren hätte. Stattdessen schnippt sie die Kippen vor die Wand. Beide landen auf seiner Decke.
Sie kramt ihren Schlüssel raus, als sie an der Ampel steht und drückt ihren Chip vor den Türöffner. Ein „Guten Morgen!“ des Portiers ignoriert sie, schnappt sich wie jeden Morgen eine Zeitung und fährt mit dem Aufzug in den 6.ten Stock. Rechts raus. Rechts ab. 4.Türlinks. 3 Schreibtische in diesem Büro. Ihrer hinter einer Wand, die das Zimmer fast in zwei teilt, uneinsehbar. Ihr Kollege ist bereits da.
„Morgen.“ murmelt sie. „Hey, guten Morgen! Gut, dass du wieder da bist. Wie war dein Urlaub? Oh, du siehst aber krank aus. Hast du Tom schon gesehen? Ach ja, Michi ist krank. Und Chef will dich sehen. Am besten sofort.“
Weiter kommt sie nicht mehr mit. Sie schaltet ab und den PC an. Lässt sich auf den Bürostuhl sinken und ihren Kollegen weitererzählen. Sie legt den Kopf in die Hände. So verharrt sie eine Weile und kriegt seinen Redeschwall nur noch unverständlich dumpf als Randerscheinung mit. Ein lästiges Gefühl macht sich in ihren Augen breit. Sie schluckt. Fühlt, dass sie keine Stimme hätte, jetzt zu antworten.
Wortlos verlässt sie den Raum, wäscht sich ihr Gesicht im Waschbecken der Damentoilette. Sie stützt ihre nassen Hände an die kalte Keramik, blickt langsam auf. Blickt auf – sieht sich selbst in die Augen und da ist sie wieder.
Diese Frage, die sie unentwegt zu quälen bereit ist, ihr das Atmen erschwert, die Albträume und schweißnasses Hochschnellen beschert, die Frage, die sie unentwegt dazu bringt, Schwäche zu zeigen, sie in die Knie zwingt, wo sie doch stark sein muss.
Diese eine Frage.
Es ist 8:36 Uhr.
Es ist ein Tag wie jeder andere.
Die tägliche Qual hat begonnen von ihr Besitz zu ergreifen.
Sie weiß, dass sie keinen Weg mehr zurück in diese Welt findet.
Weil sie die Antwort nicht kennt.
Acht uhr sechs und dreißig.

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